Yayoi Kusama – Von Künstlerinnenbiografien lernen

Lesarten

Zur Veranstaltung am 07.06.2021
Referentin & Autorin Simone Demandt

„Seit meiner Jugend, als ich den kalten Blick der Leute gespürt habe, wusste ich, dass ich so leben werde, wie ich es wollte, und ich habe es geschafft. Ich bin froh, dass ich diesen Weg gegangen bin …. Meine Berufung besteht darin, Kunst zu schaffen, um meine Seele zu beruhigen, Kunst, die dem Tod Bedeutung verleiht, die dessen Schönheit in Farbe und Raum, die Stille in seinen Spuren und das „Nichts“ umschließt, das auf den Tod folgt.“
Yayoi Kusama, Infinity Net

Der Titel „Infinity Net“, der auch der Titel ihrer Autobiografie ist, fasst Kusamas Schaffen treffend zusammen. Übersetzt lautet er „grenzenloses Netz“. In den ersten „Infinity Net“-Malereien von 1958 trägt Yayoi Kusama weiße Ölfarbe auf einen schwarzen Malgrund auf. Filigrane, sich wiederholende, halbkreisförmige Pinselstriche erzeugen dabei Muster, welche die Leinwand vollständig als All Over bedecken und eine Ausdehnung ins Unendliche suggerieren. Die Vorstellung von Unendlichkeit spielt in Kusamas hypnotischer Arbeitsweise, in ihrer Ästhetik und ihrem Denken bis heute eine grundlegende Rolle.

1929 wird Yayoi in Matsumoto (Präfektur Nagano) als jüngstes Kind in eine wohlhabende Unternehmerfamilie geboren. Mit 10 Jahren beginnt Yayoi zu malen. Zu Misshandlungen, denen sie ausgesetzt ist, muss sie als kleines Mädchen auf Geheiß ihrer Mutter ihrem Vater bei seinen „hemmungslosen Ausschweifungen“ nachspionieren und ihr berichten. „Mein Herz verrohte“. Früh stellt sich eine Abneigung und Gleichgültigkeit gegenüber Sexualität und Körpernähe her. Beides ist für sie Mittel für die Kunst, nicht für ihr Leben.
1941 beginnen bei Kusama optische und akustische Halluzinationen: „Ich sah Auren, hörte Pflanzen und Tiere sprechen.“ Da ihr auch eine Zwangsverheiratung droht, ist ihr Ziel die Flucht aus dieser konventionellen, moralischen Enge.

Sie beschreibt ihre periodisch wiederkehrenden psychotischen Schübe als „Depersonalisation“ in Folge traumatischer Erfahrungen in Kindheit und Pubertät: „… als wäre ich von gestreiften Faltenvorhängen umschlossen. Und schließlich löst sich meine Seele von meinem Körper. Sekunden können sich zu Stunden dehnen, ich kann mich dann … nur noch zu einer Kugel zusammenrollen.“ Nach C. G. Jung ist das Runde ein Symbol der Seele, auch Plato hat der Seele die Kugel als imaginierte, symbolische Gestalt zugeschrieben.

Die Lehre an der Städtischen Hochschule für Kunst in Kyoto, an der sie von 1948 bis 1950 studiert, ist geprägt von der Tradition der Nihonga Malerei, in der auf Tiefenraum und Schatten verzichtet wird, wodurch die Malerei einen ikonischen und antiillusionistischen Charakter bekommt.

Obwohl sie in Japan schnell in Einzelausstellungen ihre frühen Arbeiten zeigen kann, in denen bereits die Fülle und enorme Schaffenskraft sichtbar werden, reift in ihr der Wunsch, in den USA zu leben.

Ein mutiges und fast schon strategisches Vorgehen bahnt ihren weiteren künstlerischen Weg: 1955 schreibt sie an Georgia O’Keeffe einen Brief. Und O’Keeffe antwortet und lädt sie in die USA ein. Die von Kusama per Brief geschickten Wasserfarbenbilder zeigt O’Keeffe einem Galeristen.
Vermittelt durch Gorgia O’Keeffe hat sie eine erst Einzelausstellung in der Galerie Zoe Dusanne in Seattle. Dennoch lebt sie 1957 unter anfangs prekären Verhältnissen.
Aber schon 1960 nimmt sie mit Yves Klein, Piero Manzoni und Mark Rothko in Leverkusen teil und die Gres Galerie in Washington zeigt eine Einzelausstellung der „Infinity Net“-Gemälde.

Im Gegensatz zu O’Keeffe, die in Malerei umsetzt, „was sich in bestimmten Momenten für mich wichtig werden lässt“ (G.K.), d. h. die malerische Formulierung emotionaler Momente und Beziehungen aber auch der Natur, entspricht die versteckte Erotik in O’Keeffes Arbeiten nicht Kusamas Haltung. Dennoch verbindet die beiden Künstlerinnen eine Freundschaft.

Kusama malt „Netze“ mittels Punkten, und in ihrem Schaffensrausch verfällt sie in psychotische Zustände. Ihre Kindheit und ihre psychische Konstitution werden ihr gesamtes Leben bestimmen und Klinikaufenthalte nötig machen.
1961 beginnt Kusama mit ihren Weichskulpturen: Phallische Gebilde, Penisse übersäen Stühle, Boote, Paddel. „Als kleines Kind war ich Zeugin sexueller Akte und die Furcht vor dem, was ich sah, nahm immer größere Ausmaße an. … Ich fürchte mich vor Sex …, ich habe richtig Angst vor Sex, … ich wollte meine Angst überwinden. Die Gestaltung der Penisse diente also der Selbstheilung. Ich nannte das „psychosomatische“ Kunst … Ich befand mich mitten in meiner Furcht und heilte die Wunden meiner Seele … Ich machte meine Komplexe und Ängste zum Gegenstand meiner künstlerischen Arbeit.“ (1963)

An Selbstbewusstsein fehlte es Yayoi Kusama nicht. Sie sieht sich als Avantgardistin in der amerikanischen Kunstszene und als Vorreiterin der in Europa gerade aufkommenden Zero-Bewegung und der später entstehenden Popart.
Sie pflegt Freundschaften mit Donald Judd, Andy Warhol, Claes Oldenburg, Larry Rivers, Sam Francis, Salvator Dali u. a. Donald Judd, der als Kunstkritiker zur eigenen künstlerischen Arbeit kam, wird, so Kusama, durch ihre Kritik an seiner handwerklich mangelhaften Malweise zur Leitfigur der Minimal Art. Sie ist eine Frau, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hält. Sie hat eine bewundernswerte innere Autonomie erlangt.
1966 lädt sie sich selbst auf die Biennale nach Venedig ein und zeigt ihre Installation „Narcissus Garden“ aus verspiegelten Kugeln auf dem Biennalegelände.

Ab 1967 veranstaltet sie unerschrocken aufsehenerregende Happenings. Die Anhänger der Hippiebewegung macht sie zu ihren Protagonisten, da sie in der Hippiebewegung einen Protest gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst, von der Natur, der Mitmenschlichkeit und der Ursprünglichkeit sieht. Die von der Öffentlichkeit ambivalent aufgenommenen Happenings verbanden politischen Protest mit intensivem Einsatz für die sexuelle Befreiung, für das Probat der freie Liebe, und mit der Unterstützung der Homosexuellen.
„Body Paint Festivals“, „Lover Forever“, „Love and Nude Antiwar Parade“: Orgiastische Happenings mit ungeniertem, zügellosem Sex in der Öffentlichkeit, in Hotels und angemieteten Räumen. Sie arbeitet mit einer Gruppe sehr junger Tänzer und Jugendlicher – Pädophilie stellt in Hippiekreisen, so erschreckend das heute klingt, kein Problem dar. (Diesen Widerspruch habe ich in ihrer Arbeit nicht verstanden.)
Andererseits nutzte sie die doppelbödige Sexindustrie der USA, um ihre Idee von der freien Liebe umzusetzen. Sie selber war stets nur Beobachterin und Dokumentaristin und beginnt 1968, Filme zu drehen.

Die Punkte-, Makkaroni-, Netzarbeiten dienen ihr als „Auslöscharbeiten“, „Obliterations“, um etwas seiner Bedeutung in seiner Umgebung zu berauben. „Auflösung und Akkumulation, Vermehrung und Trennung, partielle Auslöschung und unsichtbarer Widerhall des Universums – schon früh haben diese später grundlegenden Begriffe meiner Kunst Gestalt angenommen.“

1969 gründet Yayoi Kusama Kusama Enterprices, Kusama Musical Productions („Kusama Self-Obliterations Musical“), die Body Painting Studio Company und die Kusama Fashion Company. Die Kreationen wurden in Kaufhäusern in extra eingerichteten Abteilen verkauft. Kusama wurde zum Star. Nicht nur die Kunstszene beginnt ihre exzessiven Happenings und Orgien zu lieben, verkörpern sie doch das Ende einer gesellschaftlichen Verklemmtheit.

In den 60-er Jahren entwickelt sich eine platonische Beziehung zu dem Künstler Joseph Cornell, der seit 1946 Multiple Cubes schuf. Er unterstützt ihre Arbeit, ist aber zunehmend besitzergreifend.

Nach 16 Jahren, 1973, kehrt sie „zur Erholung“ nach Japan zurück und erlebt einen Kulturschock. Die Kapitalisierung des Landes erschreckt sie: „… die Menschen verteilten sich in den engen Gassen und verschwanden in irgendwelchen Wohnungen, wo sie im Fernsehen dieselben Werbesendungen sahen, denselben Lebensstil hatten und dieselben Dinge dachten. Ich konnte im einförmigen Leben keine Individualität wie früher mehr entdecken … Japan hatte die positiven Seiten seiner Tradition verloren und sie auf hässliche Weise modernisiert.“ Nach einem psychotischen Schub weist sie sich selbst in die offene Station einer Klinik ein und richtet sich gegenüber ein Atelier ein. Sie lebt bis heute dort und arbeitet ununterbrochen, ungemein produktiv, fast manisch an ihren Punktebildern und Objekten.

Und so kennt ihre Produktivität keine Grenzen, denn 1978 beginnt sie Romane zu schreiben: „Manhattan süchtig nach Selbstmord“, „Die Höhle der Stricher“ sowie Gedichte.
1989 kehrt sie für eine Retrospektive nach NY zurück und erschrickt, dass sich in den Museen nichts getan hatte, sie schreibt, „Warhol, Lichtenstein, Jim Dine machten seit vierzig Jahren das Gleiche, nur waren sie jetzt anerkannt“. Yayoi Kusama ist eine kultur- und sozialpolitisch denkende Künstlerin, unprätentiös, sachlich, zeitgemäß.

Mehrere große Ausstellungen, zuletzt im Gropiusbau in Berlin, zeigen ihre Arbeiten und ziehen die Besucher*innen in eine höchst befremdliche Welt und eine extreme künstlerische Praxis.

Alle Zitate soweit nicht anders bezeichnet, stammen aus Yayoi Kusamas Autobiografie.

Weiterführende Literatur:

  • C. G. Jung, Der Mensch und seine Symbole, Patmos Verlag
  • Yayoi Kusama (*1929, Matsumoto, J) in der Wikipedia
  • Yayoi Kusama, Eine Retrospektive, Katalog, Gropiusbau Berlin
  • Yayoi Kusama, Infinity Net, meine Autobiografie, Peter Meyer Verlag
  • Kunstverein Braunschweig, Karola Grässlin, Jan Verwoert, Yayoi Kusama. Verlag der Buchhandlung Walther König