Eva Hesse – Von Künstlerinnen-Biografien lernen

Lesarten

Zur Veranstaltung am 01.03.2021
Referentin & Autorin Simone Demandt

„Es ist so absurd, dass der lange, dumme Metalldraht aus dieser Konstruktion hervorkommt …. Es ist die lächerlichste Konstruktion, die ich je gemacht habe, und deshalb ist sie auch so gut. Sie hat eine Art von Tiefe, die ich nicht immer erreiche, eine Art Tiefe, oder Seele, oder Absurdität, oder Leben, oder Bedeutung, oder Gefühl, oder Verstand, die ich erreichen möchte.“
Eva Hesse zur Arbeit „Hang Up“, 1966

Eva Hesse ist eine der herausragenden Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. In 1960er Jahre experimentiert sie mit Polyester, Glasfaser und Latex. Materialien, die in der Kunst bisher keine Bedeutung hatten. Hesses Arbeiten befinden sich in den großen Museen der Welt.

Eva Hesse wurde 1936 in Hamburg geboren. Schrecken und Entwurzelung prägen ihre frühe Kindheit: Nachdem sie als Zweijährige gemeinsam mit ihrer Schwester in ein Internat nach Holland geschickt wird, bereiten die Eltern die Flucht aus Nazideutschland vor. 1939 emigriert die Familie in die USA. Eva Hesses Großeltern werden von den Nazis ermordet.

Die Familie lebt in New York zuerst in prekären Verhältnissen bis Eva Hesses Vater eine neue Existenz als Versicherungskaufmann – er ist Jurist – aufbauen kann.

Die folgenden Jahre verlaufen ähnlich traumatisch: Als die Mutter 1945 die Familie verlässt und eine neue Partnerin ihres Vaters (Eva) in die Familie kommt, ist Eva acht Jahre alt. So lebt sie in einer Eifersuchts- und Konkurrenzatmosphäre.

Mit knapp zehn Jahren muss sie den Selbstmord ihrer Mutter verkraften.

Entsprechend sind in vielen ihrer späteren Arbeiten Elemente zu finden, die verbinden, umschlingen, Verknüpfungen bilden und oft eine Verlassenheit assoziieren lassen, dabei aber eine Materialwärme ausstrahlen.

In der Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin in der High-School of Industrial Arts von 1952-1953 macht sie Materialerfahrungen, die später in ihr Werk Eingang finden. Die anschließende Ausbildung am Pratt Institut of Design zur Grafikdesignerin kommt ihr zu konventionell vor, und sie bricht das Studium ab. Hesse ist beeindruckt vom abstrakten Expressionismus. Es zeichnet sich ab, welche Ziele und Intentionen Eva Hesse in ihrer Kunst haben wird: Konventionen sprengen und das Sinnfällige, Glatte und Schöne in das jeweilige Gegenteil verkehren.

Die durchlebten Traumata brechen die Sehnsucht nach Zuwendung des Vaters und Anerkennung massiv auf, so dass Eva Hesse im Laufe ihres Lebens oft unter Depression leidet.

Sie schreibt ab 1954 Tagebücher, auch als Therapie. Trotz ihrer langjährigen therapeutischen Betreuung ab dem Jahr 1954 hat Eva Hesse nie Scheu, in Krisen ihre Therapeut*innen anzurufen, um sich Hilfe zu holen.

Parallel zu inneren Konflikten entwickelt sie den starken Antrieb zur Eigenständigkeit und ab 1954 hat sie durch einen Job in der Zeitschrift seventeen das erste Mal ein Selbständigkeitsgefühl. Sie hadert mit ihrer Rolle als Frau in der Kunstwelt: Fern von feministischen Ideen und Idealen hat sie den festen Willen in die Männerdomäne „Kunst“ vorzustoßen.

Sie will Gerechtigkeit nicht aus der Geschlechtszugehörigkeit heraus definiert wissen, sondern aufgrund der Qualität der Kunst. Eva Hesse möchte, dass ihre Kunst dieselbe Aufmerksamkeit erfährt wie die der männlichen Kollegen. Allerdings fehlt es an produktiven Strategien für Künstlerinnen, ihre Kunst im Markt und den in den Museen erfolgreich etablieren zu können. Konkurrenz bzw. Teamgeist unter Künstlerinnen spielt noch kaum eine Rolle.

1957 – 1959 besucht sie die Yale Universität New Haven, Connecticut. Ihr Lehrer ist Joseph Albers, der prägend für ihre Auseinandersetzung mit dem abstrakten Expressionismus wird. Aber trotz des experimentellen Ansatzes der Lehre Albers’, ist ihr das Studium zu angewandt. Eva Hesse möchte „wild“ malen. Ihr Vorbild ist Willem de Kooning. Ihre Arbeiten beginnen auf die Gegenwelt der Allegorie und des Narrativen zu verwiesen, nämlich auf das Chaos der Wirklichkeit mit ihrer unübersichtlichen Fülle und ihren verwirrenden Sinnbezügen.

Die Ablehnung 1959 beim MOMA-Wettbewerb für junge Künstler*Innen stürzt sie in tiefe Verzweiflung.

Zu ihrem Glück gründen Studierende eine Ateliergemeinschaft im runtergekommenen Soho, wo sie Gemeinschaft, tiefe Freundschaften und Zuwendung erfährt. Sie weiß um ihre Ausstrahlung, was ihr Selbstbewusstsein gibt.

Ihre erste Ausstellung bei John Heller in New York mit Kollegen 1961 versetzt sie in ein Hochgefühl.

Nach ihrer Hochzeit mit dem Künstler Tom Doyle, mit dem sie auch nach der Trennung von ihm weiterhin eine enge Freundschaft verbindet, erfüllt sie die konventionelle Frauenrolle als Hausfrau, Ehefrau, Putzfrau, Finanzfrau parallel zu ihrem Künstlerinnendasein, denn Doyle investiert nichts in das Funktionieren einer guten Paarbeziehung, was typisch für die 60-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist.

Für Doyle interessieren sich europäische Sammler! Über ein Stipendium kann das Künstlerpaar 1965 ein Jahr in einem Atelier in der Textilfabrik Kettwig bei Düsseldorf leben und arbeiten. Eva Hesse nimmt Kontakte zu Guenther Ücker, Gruppe Zero (Hans Mack, Otto Piene), Hans Haake und Filmemacher Werner Nekes auf. Neben Ausstellungsbesuchen schaut sich das Paar auch die Documenta 3 an.

Das Dortmunder Museum am Ostwall kauft drei Zeichnungen. Es findet eine Ausstellung mit Doyle in Düsseldorfer Kunsthalle statt.

Tom Doyle motiviert Eva Hesse, mit den Stoffresten und anderen Materialien aus der Textilfabrik von Anhard Scheidt in Düsseldorf zu arbeiten. Diese Anregung nimmt sie nach einer Strecke großer Selbstzweifel und Ratlosigkeit auf, denn sie ist gegenüber Kritik und Tipps anderer aufgeschlossen. Die neuen Materialien sprechen offenbar ihr emotionales Erinnerungs- und ein Transfersystem für ihre Kunst an. Formen und Zeichen sind aufgeladen mit persönlichen, schwer oder gar nicht zu dechiffrierender Bedeutungen (Metapherndistanz).

Nur die Kunst macht in ihren Augen das Leben lebenswert. Sie ist für sie offenbar auch Therapie.

Allerdings hat sie auch in Deutschland die oben beschriebene „gespaltene“ Frauenrolle.

Angst und Ehrgeiz, Verbissenheit und Sehnsucht plagen sie.

Sie ist fest davon überzeugt, dass Gleichberechtigung in der Kunst sich nur über das Werk erzielen lässt. Allerdings will Eva Hesse keine Galionsfigur für den Feminismus sein. Künstlerinnen als Minderheit in der Kunst wird von ihr nicht – wie von späteren Generationen – als Alleinstellungsmerkmal, Vorsprung oder Kampfzone ausgewertet. Sie hat die Auffassung, dass Qualität sich durchsetzt.

Nach der Rückkehr nach New York trennt sich das Paar und Doyle zieht in Sichtweite zu ihrem Atelier ein. Verlustängste quälen sie. Im Jahr darauf 1967 stirbt ihr Vater. Die seit Jahren bestehenden Depression und starken Kopfschmerzen nehme zu.

Eva Hesses Objekte und Skulpturen verbinden Antagonismen: Freiheit – Einschränkung, Unterdrückung – Befreiung, Pathos – Humor, Beschreibung – Abstraktion.

1966 bis 1970 ist Eva Hesses intensivste Schaffensphase. 1966 entstehen „Hang Up“ und „Metronomik Irregularity“, zwei mit vielen Schnüren verbundene graue Platten.

1966 findet in New York die Ausstellung „Eccentric Abstraction“ statt, in der Werke von Louise BourgeoisYayoi Kusama und Eva Hesse gezeigt wurden. Die Ausstellung ist eine expressive Alternative zur Sprache des Minimalismus in der Skulptur.

1967 kommt flüssiger Latex als Material zu Seilen, Stoffen, Draht, 1968 zusätzlich Fiberglas.

Im April 1968 bricht Eva Hesse zusammen. Es wird ein Hirntumor diagnostiziert. Nach einer Erholungsphase auf dem Land arbeitet sie trotz Krankheit an mehreren freistehenden Objekten.

Sie nimmt an den wichtigen Ausstellungen wie „When Attitudes becoms Form“ in Bern teil (sie kann aber nicht hinreisen) und an der Ausstellung „Anti-Illusion: Procedures and Materials“ im Whitney Museum.

Kurz vor ihrem Tod am 29.05.1970 kommt ihre Arbeit „Contingent“ von 1969 auf den Titel des „Artforum“ Magazins.

1972 findet eine Retrospektive im Salomon-R.-Guggenheim-Museum in New York statt.

Ihre Arbeiten stehen für konträre Aspekte, die im Kunstschaffen der folgenden Jahrzehnte eine Rolle spielen werden: Spielerischer Einsatz von Rhythmus, gegensätzlichen Strukturen wie Ordnung und Chaos, Kontrolle und Dynamik, Präzision und Zufall, Material und Bedeutung.

Weiterführende Literatur:

  • Michael Jürgs: Eine berührbare Frau. Bertelsmann, Gütersloh 2007, ISBN 3-570-00929-7
  • Annette Tietenberg: Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts. Reimer, Berlin 2005, ISBN 978-3-496-01322-8
  • Eva Hesse, One more than one, Kunsthalle Hamburg, Ausstellungskatalog, 2016, Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7757-3754-8
  • Eva Hesse, Unheimlich lustig, Museum Wiesbaden, Ausstellungskatalog, 2019, Verlag MuWi Bücher, ISBN: 978-3-89258-122-2