Marina Abramović: Durch Mauern gehen

„Ich bin drei Marinas, die Kriegerin, die Spirituelle und die Jammertante.“
Marina Abramović

Lesarten

Zur Veranstaltung am 01.02.2021
Referentin & Autorin Simone Demandt

Marina Abramović hat als Künstlerin eine singuläre Position in der aktuellen Kunst. Die Unmittelbarkeit ihrer Kunst ist höchst irritierend, aber neben der Evokation schlimmster Gefühle beim Erleben ihrer Performances erlangen die Teilnehmer*innen eine emotionale Bereicherung oder eine Art von emotionaler Erkenntnis.

„Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass Kunst verstörend sein muss, dass Kunst Fragen stellen und zukunftsweisend sein muss. Wenn Kunst nur politisch ist, ist sie wie eine Zeitung, am nächsten Tag schon veraltet. Nur tiefere Bedeutungsschichten können der Kunst ein langes Leben bescheren – auf diese Weise kann sich die Gesellschaft im Laufe der Zeit aus einem Kunstwerk nehmen, was sie braucht.“ Durch Mauern gehen, S. 109.

Am 30.11.1946 in Belgrad wird Marina Abramović als Tochter einer Museumleiterin des Museums für Kunst und Revolution und Majorin und eines – ihrer Meinung nach – Partisanenhelden geboren. Beide Eltern sind Tito-Partisanen, schicken die Tochter für sechs Jahre zu ihrer sehr religiösen Großmutter.

Von ihr lernt sie die Beobachtung der Natur und Alltagsrituale. Als sie zurück zu ihren Eltern kommt, lebt sie dort mit den domminierenden Gefühlen Scham und Angst. Die ideologisierten Eltern hatten keine Scheu vor Gewalt, auch der Tochter gegenüber. „Wahre Kommunisten sind bereit durch Mauern zu gehen“, so zitiert Abramović’ ihre Mutter. Der Vater schenkt ihr sogar eine Pistole. Von ihrer Mutter hat sie den starken Willen und die Selbstdisziplin. Marina Abramović flüchtet sich in eine Fantasiewelt.

Abramović studierte von 1965 bis 1970 an der Belgrader Akademie der Bildenden Künste Malerei. Doch sie kommt zu der Erkenntnis:

„Warum sollte ich mich auf zwei Dimensionen beschränken, wenn ich alles benutzen konnte, um Kunst herzustellen: Feuer, Wasser, den menschlichen Körper? Alles!“ Durch Mauern gehen, S. 46.

Gemäß ihrem Grundsatze, Schmerz sei die Tür zu vielen Geheimnissen, setzt sich Marina Abramović Grenzerfahrungen und oftmals großer körperlicher Gefahr und Gewalt aus.

Schon ihre ersten Performances bringen sie an den Rand verbaler und körperlicher Kapazitäten. In Rhythm Zero, 1974, liegen 72 Gegenstände für das Publikum bereit, um mit der Künstlerin umgehen zu können als sei sie ein Objekt, darunter Rasierklingen, eine Rose, Schere, Weintrauben, eine Pistole, Brot …

Während zu Beginn der Performance die Besucher der nahezu emotionslos und ruhig dastehenden Marina Abramović Gutes tun wollen, entwickelt sich die Performance zu einer entfesselten, gewalttätigen, kollektiven Aktion, indem die Anwesenden sie mit dem Rasiermesser schnitten, sie auskleiden …, ihr die geladene Pistole an den Kopf halten. Als die Performance nach sechs Stunden beendet ist, befällt die Besucher das Entsetzen über sich selbst, und sie verlassen fluchtartig die Galerie.

Ihre durchgängige Haltung, man müsse durch den Schmerz, durch Leiden und schließlich durch das Sterben, den Tod hindurchgehen, wird später durch ihre Zusammenarbeit mit Schamanen und tibetischen Mönchen vertieft werden.

Ab 1976 arbeitet sie mit dem deutschen Künstler Ulay, Frank Uwe Laysiepen, zusammen. Beide haben am selben Tag Geburtstag, und sie haben das Verlangen, im Leben wie in der Kunst eine Symbiose einzugehen. Beide sind Kinder traumatisierter Elternpaare. Auch die gemeinsamen Performances von Abramović und Ulay, sind Grenzerfahrungen sowohl für die beiden selber als auch für das Publikum. In Expansion in Space von 1977 rennen beide aneinander vorbei und prallen jeweils an die gegenüber liegende Wand. Oder Rest Energy von 1980: Ulay richtet einen Pfeil auf Abramović‘s Brust, und beide halten durch leichte Rückwärtsneigung den Bogen in Spannung. Der Pfeil ist schussbereit!

Schließlich die Performance Imponderabilia, 1977, bei der sich die Besucher der Ausstellung zwischen ihren beiden nackten Körpern hindurchzwängen müssen, um in den Ausstellungsraum zu gelangen. Ihr Treffen auf der Chinesischen Mauer 1988, über die sie von entgegengesetzten Richtungen auf einander zu wandern, um schließlich zu heiraten, gerät zum Desaster, Abramović und Ulay trennen sich und liegen fortan in einem erbitterten Streit um Urheberrechte und Lizenzen. Marina Abramović ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Und Ulay schätzt sie diesbezüglich falsch ein. Außerdem weiß sie geschickt mit den Medien umzugehen und ist sich bewusst, dass Perdormance als Kunstform mediale Aufmerksamkeit braucht.

„Misserfolge sind sehr wichtig – sie bedeuten mir sehr viel. Nachdem ich versagt habe, verfalle ich erst einmal in eine tiefe Depression und verkrieche mich in den dunkelsten Teil meines Körpers, aber schon bald lebe ich wieder auf und beginne etwas Neues …. Wer experimentiert, dem darf auch etwas misslingen.“ Durch Mauern gehen, S. 201.

Nun wird das Publikum direkt zu ihrem „Partner“. Sie möchte in Dialog mit dem Publikum treten.

Ihr Ziel ist es, Bewusstseinszustände auf das Publikum zu übertragen.

Zu den eher streng auf ihren Körper konzentrierten Performances kommen nun olfaktorische und akustische Elemente dazu. Die Performance soll den Raum mit Bewusstsein füllen, soll an mehreren Kanälen der Besucher andocken. Zu nennen ist die Arbeit The Onion von 1995, in der sie Zwiebel essend zum Jugoslawienkrieg Stellung bezieht, oder die mit dem goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnete Arbeit Balkan Barock, 1997: Abramović schabt in einem Keller in bestialischem Gestank Fleisch von 2000 Rinderknochen. Auch diese Arbeit ist ein Kommentar zum Jugoslawienkrieg.

In den kommenden Jahren, nachdem sie bei tibetischen Mönchen gelebt hat, ist die Stille das zentrale Element, das für sie als Kommunikationsebene mit dem Publikum eine wesentliche Rolle spielen wird. Die Performances bekommen etwas Spirituelles, Meditatives.

Dieses Bestreben, mit einem überreizten, unbehausten Publikum in Kontakt zu treten, zeigt die Performance The Artist is present im MOMA, 2010. Insgesamt 736 Stunden sitzt Abramović ruhig auf einem Stuhl während Besucherinnen und Besucher ihr gegenüber schweigend Platz nehmen dürfen. Ihre Anwesenheit soll erspürt werden. Die Emotionen der Besucher reichen von Überwältigung durch eigene Gefühlen bis zu Wut und Rastlosigkeit, aber niemand blieb unberührt. „Ich habe Ihnen erlaubt, verletzlich zu sein,“ sagt Marina Abramović in einem SWR-Interview im November 2021.

„Ein Künstler muss die Stille verstehen. Ein Künstler muss in seinem Werk Raum für die Stille schaffen. Die Stille ist wie eine Insel inmitten eines aufgewühlten Meeres. Ein Künstler muss sich Zeit nehmen und lange Phasen der Einsamkeit auf sich nehmen. Einsamkeit ist extrem wichtig.“ Durch Mauern gehen.

In den Folgejahren arbeitet Abramović mit Robert Wilson zusammen, sie be- und verarbeitet ihre Scham öffentlich auf der Bühne, um so das lähmende Gefühl ihrer Kindheit hinter sich zu lassen. Für die Theaterinszenierung von „Life and Death of Marina Abramović“ aus dem Jahr 2011 gibt der Regisseur Robert Wilson ihr auch die Rolle ihrer Mutter.

Die kluge Geschäftsfrau mit einem missionarischen Selbstbewusstsein gründet eine Traineegesellschaft und veranstaltet Seminar,e in denen z. B. mit der Übung „cleaning the house“ Achtsamkeit und Entschleunigung erlangt werden sollen. Übungen sind z. B. Reiskörner zählen, rückwärtslaufen, bewusst ein Glas Wasser trinken.

2005 verlegt Abramović ihren Wohn- und Arbeitsort von Europa nach New York, wo sie 2008 am Hudson ein Theater kauft, den späteren Sitz des Marina Abramović Institute (MAI). 2007 gründet sie die Marina Abramović Foundation for Preservation of Performance Art. 2012 wird sie in die Wettbewerbsjury der 69. Internationalen Filmfestspiele von Venedig berufen.

Abramović sieht die Gefahr, dass Resonanzräume, sowohl die individuellen im Selbst als auch Interaktionsräume durch Informationen, Reize, Erwartungsdruck überschwemmt und schließlich durch Ängste besetzt werden. Sie möchte vermitteln, dass es wichtig ist, zu einer absoluten Gegenwartswahrnehmung zu gelangen und sich nicht als getrieben fühlen müssen.

Weiterführende Literatur:

  • Marina Abramović, Autobiografie: Durch Mauern gehen, Luchterhand, 2016
  • Jeannette Fischer, Psychoanalyst meets Marina Abramović – Artist meets Jeannette Fischer. A unique insight into Marina Abramović’s biography and art and what connects the two. Scheidegger & Spiess, Zürich 2018
  • Dr. Nicole Fritz und Marina Abramović, Jenes Selbst / Unser Selbst, Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen, Köln 2021
  • Angeli Janhsen, Marina Abramović, In: Neue Kunst als Katalysator. Reimer Verlag, Berlin 2012, S. 49 – 57
  • Samantha Krukowski, Performing History, Walking Along Ulay and Abramović’s The Lovers. Ph. D. Dissertation, Department of Art and Art History University of Texas at Austin, 1999