Louise Bourgeois – Von Künstlerinnenbiografien lernen

Lesarten: Von Künstlerinnen-Biografien lernen

Zur Veranstaltung am 11.10.2021
Referentin & Autorin Dorothea Gillert-Marien

zart-stark: Louise Bourgeois

Immer hat sie gearbeitet, viel gearbeitet bis ins hohe Alter hinein. Kunst war ihr Leben, sie hat aus ihrer Kunst Kraft geschöpft, und die Kunst hat sie Kraft gekostet.

Ihre künstlerische Arbeit scheint ein Ventil gewesen zu sein: Sie ermöglichte ihr, die eigenen Gefühle auszudrücken und für diese einen Ort zu haben, an den sie gehören – außerhalb von sich selbst. Dafür hat sie gearbeitet. Sie hat sich künstlerisch an sich selbst und an ihrer Familiengeschichte abgearbeitet.

Wer war Louise Bourgeois? Was hat sie zur Kunst geführt? Was hat sie entscheidend beeinflusst in ihrem Leben? Wie hat sie gearbeitet? Und wann wurde ihr weltweite Anerkennung zuteil?

Man könnte sagen, dass ihr Elternhaus eine alles entscheidende Rolle spielte, aber auch die Zeit, in die sie hineingeboren wurde, war von Bedeutung. Beides.

Geboren wird Louise Bourgeois am 25.11.1911 in Paris. Ihre Eltern verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Restaurieren von Tapisserien. Quasi mit der Muttermilch saugt sie Kunstvolles auf; Kunst ist ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Sie zeichnet gerne und viel und in einer Weise, dass sie von der Mutter dazu aufgefordert wird, im elterlichen Betrieb mitzuarbeiten: Sie fertigt die Zeichnungen auf den Gobelins an. Es ist ein positiver Aspekt in ihrem Elternhaus, der ihr das Gefühl gibt, etwas zu können und deshalb wertvoll zu sein.

Mindestens genauso prägend wie die Mitarbeit bei den Restaurierungen ist für Louise Bourgeois aber auch der Vater mit seiner Persönlichkeit und seinem Agieren sowie die gesamte Familiensituation während ihrer Kindheit und Jugend: zehn Jahre lang wohnt ein britisches Kindermädchen mit im Haus, das ein Verhältnis mit dem Vater hat. Die Mutter duldet die Situation. Das alles geschieht in einer Zeit, in der in Frankreich eine ganz bestimmte allgemeine Haltung zur Ehe verbreitet ist: Sie wurde als ein Zustand gesehen, in dem ein Mann seine Frau liebt, aber mit möglichst vielen Frauen schläft.

Aus dieser familiären Konstellation entwickelt sich eine komplexe Beziehung zu ihrer Mutter, ihrem Vater und seiner Geliebten, die zeitlebens Louise Bourgeois’ Leben und ihre Kunst maßgeblich beeinflusst und bestimmt hat.

Mit 21 Jahren beendet Louise Bourgeois gegen den Willen der Eltern mit dem Abitur die Schule. Im selben Jahr überlebt sie einen Suizid-Versuch, den sie unternahm, nachdem die Mutter gestorben war, und der von ihrem Vater vereitelt wurde.

Noch im selben Jahr nimmt sie ihr Studium der Mathematik an der Sorbonne auf, das sie jedoch wieder fallen lässt, nachdem ihr klar wird, dass auch in der Mathematik nicht alle Regeln immer gelten. Sie hatte gehofft – im Gegensatz zu dem Familiensystem, in dem sie aufgewachsen ist – Verlässlichkeit der geltenden Regeln zu finden. Gleichzeitig schreibt sie sich an der Ecole des Beaux-Arts und an anderen privaten Kunstschulen ein.

Mit 26 Jahren heiratet Louise Bourgeois den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Gildwater, der bis zu seinem Tod 1973 für sie ein Ruhepol gewesen ist, auf den sie sich immer verlassen konnte. Sie geht mit ihm nach New York, ist weit entfernt von ihrer Familie und hat sie doch mit im Lebensgepäck. In New York beginnt Louise Bourgeois professionell als unabhängige Künstlerin zu arbeiten. Sie widmet sich als grundlegendem, aber nicht einzigen Thema der Erforschung und Artikulierung von Gefühlen aus ihrer Kindheit und Jugend.

In dieser frühen Phase ihrer künstlerischen Tätigkeit wird Louise Bourgeois zu einigen Ausstellungen eingeladen und nimmt immer wieder an Gruppenausstellungen teil. Sie ist sehr gut in privaten Sammlungen vertreten, ist zunächst in der Öffentlichkeit allerdings nicht sehr bekannt. Einen Grund dafür sah sie selbst z. T. im auch damals aktuellen Sexismus.

Louise Borugeois ficht das alles nicht an. Unbeirrt geht sie ihren künstlerischen Weg und zieht gleichzeitig drei Kinder groß.

1953 beginnt Louise Bourgeois eine Psychoanalyse bei Dr. Henry Lowenfeld, die bis zu seinem Tod 1985 dauerte: 32 Jahre!

50 Jahre lang experimentiert Louise Bourgeois mit verschiedenen Materialien. Die lange Zeit nicht öffentlich kommunizierte Psychoanalyse könnte im übertragenen Sinn zu diesen Materialien gehören.

In der Kunstwelt bekannt ist Louise Bourgeois aber vor allem als Bildhauerin: sie arbeitet sich voran und durch weiche Materialien – wie Papier zum Skizzieren – über Holz und Gips bis hin zum härtesten Material: Marmor.

An ihren Werken arbeitet sie zum Teil über Jahrzehnte. Einen Teil des Geschaffenen zerstört sie und stellt es im Anschluss an die Zerstörung wieder her.

Wie sehr sich Louise Bourgeois an ihrer eigenen Kindheit und Jugend Zeit ihres Lebens abarbeitet, und wo sie gerade zu stehen scheint, zeigt sich immer wieder in ihren Arbeiten: z. B. „Torso“, Self Protrait, 1963/64. Louise Bourgeois kommentiert: „Meine ersten Portraits haben keine Arme, sind hilflos. Keine Arme zu haben, bedeutet, dass du dich nicht selbst verteidigen kannst. In diesem Zustand kennst du deine Grenzen.“

Nach dem Tod ihres Mannes 1973 – Louise Bourgeois fühlt sich allein gelassen – werden viele Arbeiten aggressiv gegenüber der männlichen Figur, auch ihrem Vater gegenüber. 1974 entsteht die besonders berühmte Arbeit „Destruction of the Father“.

Louise Bourgeois kommentiert diese Arbeit mit klaren Worten: „Ich vergebe nicht und ich vergesse nicht. Das ist das Motto, das meine Arbeit nährt.“

Sie führt zudem aus, dass sie mit dieser Arbeit anderen Menschen die Möglichkeit geben möchte, „jene Erfahrung nachzuerleben“. Kunst funktioniert hier wie ein Ventil; sie ist gleichzeitig Bewältigungsstrategie, an der alle, die Louise Bourgeois’ Kunst rezipieren, auf einer universellen Ebene teilhaben können.

Mit der Retrospektive im Museum of Modern Art 1982 erlangt sie internationale Bekanntheit. In den 1990ern ist sie auch auf der Dokumenta in Kassel und auf der Biennale in Venedig vertreten, sie erlebt eine große Wertschätzung ihres Werks.

Mit den 1980er Jahren beginnt auch Louise Bourgeois‘ besonders produktive Phase, die bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 andauert.

Sie sammelt Objekte, die etwas in ihr auslösten, und stellt sie in Räume, in die man durch zerbrochenes Glas hindurch oder an einer Tür vorbei hineinsehen, aber nicht eintreten konnte: „Cells“. Diese Räume hatten für sie etwas mit der Akzeptanz ihrer selbst zu tun – genauso wie Spiegel. Eine Zeit lang lebt Louise Bourgeois in einem Haus ohne Spiegel, weil sie sich selbst nicht akzeptieren konnte und folglich auch ihren eigenen Anblickt im Spiegel nicht. In einen Spiegel zu blicken, hat für Louise Bourgeois deshalb auch nichts mit Eitelkeit zu tun, sondern eben mit der Akzeptanz der eigenen Person.

Louise Bourgeois verkörpert für mich eine faszinierende Gleichzeitigkeit von  Stärke und Zerbrechlichkeit, von Verletzlichkeit und dem Vermögen, sich zu wehren, von Energie und kräftezehrendem Arbeiten, von Schaffen und Zerstören, von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, von Schmerz und von Lebensmut, trocken in ihrer Art und emotional in ihrem Werk.

Von sich selbst sagt sie: „Ich bin eine hartnäckige Person.“

Quellennachweis & weiterführende Literatur: